Tübingen – Das Gegenteil von Scheu heißt Levin Gebhardt. Der
blonde Dreijährige brabbelt vor sich hin, funktioniert zum Spielzeug
um, was er zwischen die Hände bekommt, und stopft Mangostück um
Mangostück in den Mund.
Mutter Lea erklärt seine Aufgeschlossenheit so: «Er hat von klein auf gelernt, mit anderen Menschen mitgehen zu müssen.» Häufig trugen diese Anderen weiße Kittel. Levin hatte Leukämie – in einer bösartigen Version.
«Mehr als 39.000 Menschen erkranken in Deutschland jährlich an
Blutkrebs», sagt Simone Henrich von der
Knochenmarkspenderdatei DKMS, die zum Weltblutkrebstag am 28. Mai besonders auf das Thema
aufmerksam machen will. Laut
Zentrum für Krebsregisterdaten
(ZfKD)sind darunter
650 Kinder und Jugendliche.
Eine Stammzelltransplantation war nötig
2016, mit gerade drei Monaten, war Levin einer von ihnen. Mutter Lea war 17 bei seiner Geburt. Bekannte sprachen sie auf die Blässe ihres Babys an. Ob sie ihn nicht einmal auf einen Eisenmangel hin untersuchen lassen wolle?
Levins Arzt vermutete stattdessen einen Nierentumor und schickte die
junge Frau aus der Nähe von Ludwigsburg mit ihrem Sohn in ein
Stuttgarter Krankenhaus. Dort wurde Leukämie in fortgeschrittenem
Stadium diagnostiziert.
Die Chemotherapie genügte nicht. Levin benötigte eine Stammzelltransplantation. Er kam in die darauf spezialisierte Tübinger Uniklinik.
Neun von zehn Erkrankten finden einen Spender
Rund 300 Stammzelltransplantationen bei Kindern werden pro Jahr
bundesweit durchgeführt, 50 davon in Tübingen. Gibt es keine
Geschwister, wird über das Zentrale Knochenmarkspenderregister nach
einem Spender mit übereinstimmenden Gewebemerkmalen gesucht.
Bundesweit sind 8,5 Millionen Spender in insgesamt 26 Dateien wie der DKMS registriert. Neun von zehn Erkrankten finden Henrich zufolge einen passenden.
Bei Levin dauerte die Suche nach einem Spender einen Monat. Nach der
sogenannten Konditionierung, die eigene Knochenmarkzellen wie
Leukämiezellen zerstören soll, bekam er dessen Knochenmark übertragen
– eine Art Neustart des blutbildenden Systems.
Infektionen sind die größte Gefahr
Dann folgte die Isolation. Acht Wochen verbrachte Levin in der Tübinger Uni-Kinderklinik. Stets in ein und demselben Raum mit gefilterter Luft, damit eine erneute Blutbildung in Gang kommt.
Seine Mutter verbrachte diese Zeit in Overalls und hinter Mundschutz,
schrubbte sich die Hände an Desinfektionsmittel kaputt, um keine
Keime in das Zimmer ihres Sohnes zu bringen.
«Eine Infektion kann in dieser Zeit tödlich sein, weil keine Abwehrkräfte vorhanden sind», sagt Peter Lang, Bereichsleiter der Stammzelltransplantation an der Tübinger Kinderklinik. Alles lief gut. Levins Heilungschancen lagen bei 70 Prozent. Ein halbes Jahr später bekam er einen Rückfall.
Ein Leben im Krankenhaus
Dieses Mal spendete ihm seine Mutter Knochenmark. Weil solche
Elternspenden genetisch nur halbidentisch mit dem Gewebe ihrer Kinder
sind, müssen sie im Labor speziell aufbereitet werden. Das geschieht
im Stammzelllabor der Uniklinik.
«1964 galt Leukämie im Kindesalter noch als unheilbar», sagt Lang.
Durch andere Behandlungsmöglichkeiten haben sich die Heilungschancen
seither nach und nach verbessert.
Doch wenn Chemotherapie oder Bestrahlung nicht helfen, gilt eine Stammzellspende für viele Betroffene als einzige oder letzte Chance. Lang: «Sie ist die stärkste Waffe, die wir haben.» Alternativtherapien, die sie ersetzen können, gebe es nicht.
Das Sozialleben der Gebhardts fand in den vergangenen Jahren im
Krankenhaus statt. Lea lernte zwischen Infusionsbeuteln und
Schläuchen für ihre Mittlere Reife. Sie freundete sich mit Familien
anderer leukämiekranker Kinder an. Manche von ihnen starben.
Der Alltag wird endlich normal
Das sei schlimm gewesen, sagt die 20-Jährige. Bei Levin kam der Blutkrebs seit der zweiten Stammzelltransplantation nicht wieder. Im Rahmen einer Studie der Uniklinik bekommt er regelmäßig Impfungen, die sein Immunsystem stärken sollen. Der Alltag normalisiert sich.
Wobei, normal: Nebenwirkungen wie Erbrechen begleiteten Levin vom
Säuglingsalter an, in Krankenzimmern wuchs er auf. Er kennt es nicht
anders. Mit knapp 33 Prozent ist Leukämie laut ZfKD die häufigste
Krebsart bei Kindern. «Je kleiner sie sind, desto besser verkraften
sie es», sagt Lang.
Lea Gebhardt möchte eine Ausbildung zur Fahrzeuginnenausstatterin
beginnen. Optimismus blitzt aus ihren Augen, wenn sie davon erzählt.
Levin darf bald einen Kindergarten besuchen. Mit Schüchternheit wird
er nicht zu kämpfen haben.
Fotocredits: Marijan Murat,Marijan Murat,Marijan Murat,Marijan Murat,Marijan Murat,Marijan Murat,Marijan Murat,Marijan Murat
(dpa)