Berlin – Wie eine Hand im Körperinneren, die vom Bauchraum aus nach dem Herzen greift. Sybille Burmeister verdreht ihren Arm vor der Brust, um zu zeigen, wie sich das merkwürdige Klopfen in der Herzgegend anfühlte, das sie seit der Jugend immer wieder hatte.
Hinzu kamen Schwindel und ein Summen im Ohr. Unheimlich und lästig war das, wie sie sagt, an ihrem Herzen aber entdeckte kein Arzt je etwas Ungewöhnliches. Dann kam ein Tag im Jahr 2006, Burmeister war 35, als sie auf dem Balkon das Bewusstsein verlor. Als sie wieder zu sich kam, lag sie im Gästezimmer, blutete aus dem Mund, hatte ein «Veilchen» am Auge und Schmerzen überall. Was war das?
Nach Besuchen beim Hausarzt, einer Klinik und schließlich beim Neurologen fand sich die Antwort: ein epileptischer Anfall. Burmeister bekam ein Medikament, mit dem auch das gefühlte Herzrasen seltener wurde. So klärte sich auf, dass sie seit dem Alter von 15 Jahren immer wieder kleinere Anfälle gehabt haben könnte.
Dabei sind es die großen sogenannten generalisierten Anfälle, wie Burmeister ihn auf dem Balkon erlebte, die typischerweise mit Epilepsie in Verbindung gebracht werden: Der Betroffene stürzt zu Boden, zuckt, wird bewusstlos. Im ganzen Gehirn entladen sich dabei durch eine Störung im zentralen Nervensystem viele Nervenzellen gleichzeitig. Aber das Spektrum der Anfallsformen ist breiter. Teils betreffen sie nur einen bestimmten Teil des Gehirns und ziehen so auch nicht immer einen körperlichen Zusammenbruch nach sich.
Ursache für eine Epilepsie können angeborene oder erworbene Hirnschäden sein. Bei vielen ist der Grund unbekannt. Voraussetzung für die Diagnose ist, dass mehrfach spontan Anfälle auftreten. Wenn Ärzte eine Stelle im Gehirn finden, von der diese ausgehen, sind unter bestimmten Bedingungen auch Operationen möglich – insgesamt bei etwa fünf Prozent der Erkrankten, sagt der Medizinsoziologe Norbert van Kampen vom Epilepsie-Zentrum Berlin-Brandenburg. Sehr klein ist auch der Anteil jener, bei denen Anfälle durch optische Reize wie flackerndes Licht im Club getriggert werden.
Für Burmeister kam die Diagnose aus dem Nichts. Sie ist eine von nach Schätzungen rund 500 000 Betroffenen bundesweit. Die Journalistin aus Ludwigshafen fühlte sich damals mit der Erkrankung völlig alleingelassen, Depressionen bis hin zum Burn-out waren die Folge. Immer noch schwebe gefühlt ein Damoklesschwert über ihr, sagt Burmeister. Sie müsse auf relativ viele Dinge achten, sei lebenslang auf Medikamente angewiesen und dürfe nach einem großen Anfall stets ein Jahr nicht Auto fahren.
Aber ihr Fazit ist dennoch ein anderes: «Wenn man in guter Behandlung ist, kann man mit dieser Krankheit ziemlich normal leben.» Als Vorstandsmitglied der
Deutschen Epilepsievereinigung und deren Sprecherin setzt sich Burmeister heute für Aufklärung über die Erkrankung ein, hat eine Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen und will gegen Vorurteile ankämpfen. «Mir ist wichtig, dass dieses Stigma, das noch mit der Krankheit verbunden ist, einmal überwunden sein wird.»
Denn Burmeister hat verletzende Reaktionen erlebt, wenn sie ihre Erkrankung erwähnte. Manche wichen erst einmal ein Stück zurück, als sei sie ansteckend. Ihr Eindruck: «Manche denken, dass man zwangsläufig geistig ein bisschen minderbemittelt ist.» Wieder andere zeigten Erstaunen, dass man ihr nichts ansehe. «Aber was soll man mir denn auch ansehen?», fragt sich Burmeister. Nicht nur für sie selbst habe der Begriff «Epileptiker» einen negativen Beigeschmack, weil die Krankheit mit dem Menschen gleichgesetzt werde.
Befragungen zeigen, dass sich die Wahrnehmung der Krankheit in den vergangenen Jahren schon etwas verändert hat – weniger Menschen halten Epilepsie für eine geistige Behinderung als vor 20 Jahren. Norbert van Kampens Erfahrung zeigt aber, dass es beruflich für manche Betroffene das Aus bedeuten würde, wenn sie darüber sprächen. Manche erzählten nicht einmal dem eigenen Partner von der Diagnose.
Mit falschen Vorstellungen konfrontiert werde man häufig, sagt Stefan Conrad, der in der Jugend etwa zweimal jährlich große Anfälle hatte. Für Außenstehende oft überraschend sei zum Beispiel, dass sich Betroffene im Alltag nicht dauernd einschränken müssten und dass viele Patienten oft über lange Phasen anfallsfrei sind – in Conrads Fall sind es zwölf Jahre, wie er sagt. Bevor Medikamente ihm halfen, hatte er Anfälle nach dem Aufstehen, die sich mit Zucken in Arm oder Bein ankündigten. So konnte er sich oft rechtzeitig hinlegen.
Das Motto des Epilepsie-Tages am 5. Oktober – «Epilepsie ist gut behandelbar – wie lange noch?» – ist der Sorge von Patienten gewidmet, dass falsche politische Weichenstellungen die Zulassung und damit den Zugang zu neuen Epilepsie-Medikamenten erschweren könnten.
Daneben ist für die Betroffenen wie auch für Norbert van Kampen klar, dass es mehr spezialisierte Beratungsstellen in Deutschland geben müsste, um Menschen nach einer Diagnose in sozialer und medizinischer Hinsicht aufzufangen. Der Weg zum Epileptologen und zu Spezialzentren sei noch nicht an der Tagesordnung. Van Kampen sagt: «Es gibt Betroffene, die leben seit 20 Jahren mit Epilepsie und haben keine Vorstellung davon, was sie da eigentlich haben.» Kein Patient und keine Epilepsie sei wie die andere, betont Burmeister. «Das macht die medikamentöse Behandlung so schwer. Das ist immer Trial and Error.»
Fotocredits: Britta Pedersen
(dpa)